Die novellistische Studie "Bahnwärter Thiel“ von Gerhart Hauptmann erschien erstmals im Jahre 1888. Sie schildert die Zerfallsgeschichte der Hauptperson Thiel.
Die Geschichte ist in drei Teile gegliedert. Zu Beginn wird die Vergangenheit der Hauptperson Thiel geschildert. In einem gerafften Bericht wird der Leser in das Leben von Thiel eingeführt: Seine erste Frau Minna ist bei der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Tobias verstorben. Dieses Ereignis hat Thiel, der Minna aufrichtig geliebt hat, sehr erschüttert und verfolgt ihn bis in die Gegenwart. Um Tobias ein normales Leben zu ermöglichen, hat Thiel jedoch kurz darauf ein zweites Mal geheiratet. Seine zweite Frau, die Kuhmagd Lene, ist herrschsüchtig und grob und stellt das ziemliche Gegenteil von Thiels erster Frau dar. Thiels sexuelle Triebe führen ihn immer tiefer in die Abhängigkeit von Lene, und die beiden bekommmen ein zweites Kind. Theil empfindet seinem Kind aus der Ehe mit Minna gegenüber jedoch viel mehr Liebe. Aus Wut darüber beginnt Lene, Tobias zu misshandeln. Um diese schrecklichen Umstände durchzustehen verfällt Thiel in eine Art "Trance“, in der er sich nur noch seinem Alltag fügt, jedoch ohne jegliche Form von Emotionen dabei zu verspüren.
Im zweiten Teil der novellistischen Studie wird auf diese Trance Bezug genommen. Als Thiel eines Tages nach Hause kommt, bekommt er mit, dass Tobias misshandelt wird. Er reagiert darauf jedoch nicht und macht sich auf den Weg zu seiner Arbeit im Bahnhäuschen. Dort wird er von schlechtem Gewissen gegenüber Minna geplagt und er schämt sich, gegen die traurigen Umstände seines Sohnes Tobias nichts unternommen zu haben. Minna erscheint ihm in Form eines Traumes und der Leser erhält einen Blick dafür, wie schlecht es um den psychischen Zustand von Thiel steht.
Der dritte Teil schildert den Weg in die Katastrophe. Es erfolgt ein Zugunglück, bei dem Tobias stirbt. Thiel gibt dafür seiner jetzigen Frau Lene die Schuld und kurz darauf ermordet er Lene und sein gemeinsames Kind mit ihr.
Die Bedeutung von Natur und Technik
Natur und Technik spielen in dem Werk eine zentrale Rolle. Die Technik untermalt das immerzu präsente Unheil und steht für die tragische Wirklichkeit. Die Naturvorgänge spiegeln Thiels mentale Vorgänge wider. (Martini, Fritz)(2017)
Hauptmann, der der technischen Entwicklung seines Zeitalters kritisch gegenüberstand, hat die Eisenbahn mit Absicht zum symbolischen Zentrum seiner Geschichte gemacht (Martini, Fritz) (2017). Diese zeigt das Unheil, das die technische Entwicklung nach Hauptmanns Auffassung mit sich bringt. Denn die Eisenbahn wird bei nahezu jeder Erwähnung als "Ungetüm“ bezeichnet (Vgl. S. 20 und 25). Auch die Bilder rund um die Eisenbahn werden negativ dargestellt. Denn sie werden immer mit negativ behafteten Wörtern beschrieben. So werden die Gleise "feurigen Schlangen“ (S.19) gleichgesetzt und die Drähte an den Masten der Eisenbahnstrecke werden mit Spinnen verglichen (S.19). Während der Nacht werfen die Lichter eines vorbeifahrenden Zuges einen "blutigen“ (S.25) Schein auf die Gleise.
Die Art, wie die Eisenbahn beschrieben wird, verleitet den Leser zu der Annahme, dass die Eisenbahn symbolisch für die Wirklichkeit steht. Denn auch die Wirklichkeit erhält in dieser Geschichte einen negativen, unheilvollen Stellenwert. Ausserdem weisen die Wirklichkeit (hier in Hauptmanns novellistischer Studie) und die Eisenbahn eine auffällige Gemeinsamkeit auf. Sie beide führen unaufhaltsam nur in eine Richtung, doch das Ziel ist nicht erkennbar. Das wird durch folgende Textstelle belegt: "Die schwarzen, parallellaufenden Geleise […] glichen in ihrer Gesamtheit einer ungeheuren Netzmasche, deren schmale Strähne sich im äussersten Süden und Norden in einem Punkte des Horizontes zusammenzogen." – Doch das Ende der Geleise, des Horizontes ist für Thiel nicht erkennbar. So ist eigentlich schon zu Beginn der Geschichte klar, dass sie negativ enden wird (denn Thiel weist von Anfang an Merkmale des Wahnsinns auf, ein Beispiel ist die Gesprächsführung mit seiner toten Frau). Doch dem Leser wird das volle Ausmass der Katastrophe erst später bewusst gemacht, bei der Ermordung von Lene und dem kleinen Kind.
Da sich Thiel der Wirklichkeit nicht gewachsen fühlt und an ihr zerbricht, scheint es logisch, dass er sie aufhalten will. Auch diese Tatsache verstärkt die These, dass die Eisenbahn stellvertretend für die Wirklichkeit steht. Denn eines Nachts wird beschrieben, wie Thiel einen vorbeifahrenden Schnellzug aufhalten möchte: "Als habe er die Absicht, den rasenden Zug zum Stehen zu bringen". (S.25)
Zusätzlich wird der Interpretationsansatz noch von der Wahl des Raumes bestärkt. Thiel ist durch seinen Beruf an das Bahnhäuschen, also auch an die Eisenbahn gebunden. Genauso ist er an die Wirklichkeit gebunden. Denn auch wenn er es möchte, kann er Minna nur im Traum sehen und kann sich gleichzeitig nicht von Lene lösen. Diese Parallele lässt sich besonders gut mit folgender Textstelle zeigen: Selbst als Thiel nach dem Unglück Tobias wegbringen will, bindet ihn seine Pflicht als Bahnwärter an die Eisenbahnstrecke ("Thiel scheint zu überlegen, ob er mitgehen solle. Augenblicklich ist niemand da, der den Dienst versteht [deshalb bleibt Thiel, statt mit dem verletzten Tobias zu gehen]", S.34). Obwohl ihm Tobias sehr wichtig ist, bleibt er. Denn er ist an das Bahnhäuschen und an die Wirklichkeit gebunden (die grausame Realität ist: Thiel kann seinem Sohn nicht helfen und er wird sterben).
Zuletzt kann man die Interpretation auch anhand eines Vergleiches erklären. Lene wird in der Geschichte mit der Eisenbahn gleichgesetzt. Dies zeigt sich an der Textstelle, in der Lene auf dem Acker mit der "Geschwindigkeit und Ausdauer einer Maschine" arbeitet (S.29). Lene ist also auch mit der Wirklichkeit gleichzusetzten. Schon zu Beginn des Buches wird Thiels Abhängigkeit von ihr beschrieben ("Er geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in fast allem unbedingt von ihr abhängig", S.7). Thiel ist also genauso an Lene gebunden, wie er an die Wirklichkeit (also an sein Leben) und an die Eisenbahn gebunden ist.
Anhand all dieser Belege lässt sich unserer Ansicht nach bestätigen, dass die Eisenbahn Symbol für die Wirklichkeit ist. Die Wirklichkeit wird also in der Geschichte von Hauptmann indirekt durch die symbolische Bedeutung der Eisenbahn als bedrohlich und unaufhaltsam dargestellt. Das passt zu dem Bild, das Hauptmann zu seiner Zeit von der Wirklichkeit gehabt haben muss: Durch die Technik bedrohlich geworden und in ihrer Entwicklung unaufhaltsam. Damit schliesst sich der Kreis zwischen Symbolik, Aussage der Geschichte und Zeitgeschichte des Autors.
Auch die Natur wird meistens düster dargestellt. Die Farben, welche für die Beschreibung verwendet werden, sind meistens dunkel (z. B. "schwarze Wasserlachen", S.14). Ausserdem findet die Farbe Rot, welche allgemein als bedrohlich angesehen wird und den Leser an Blut erinnert, insgesamt 17 Mal Verwendung in dem Werk. Als Beispiel dazu: „Die Sonne […] gleich einem ungeheuren blutroten Edelstein“. (S.26)
Geht man nun von der Theorie aus, dass die Naturvorgänge symbolisch für Thiels Gedanken und Gefühle stehen, so lassen sich in der Geschichte viele Parallelen zwischen Thiels Gedanken und der Beschreibung der Natur finden. Wie bereits erwähnt, lebt Thiel sein Leben nahezu ausschliesslich in einer Art "Trance", denn nur so kann er die schrecklichen Dinge um ihn herum ertragen. Diese "Vernebelung" seiner Gedanken könnte auch anhand der Natur gedeutet werden. Denn in der Geschichte befindet sich an einem normalen Tag ein "bläulicher Dunst" (S.14) über dem Wald. Immer wenn Thiel unterbewusst sehr aufgewühlt sein muss, so ist auch die Natur düster und unheilvoll dargestellt. Das lässt sich gut mit dem folgenden Beispiel verdeutlichen: Nachdem Thiel mitbekommt, dass sein Sohn misshandelt wird, belastet ihn das sehr. In der Nacht erleidet er einen mentalen Zusammenbruch, der durch eine bedrohliche Beschreibung der Natur verdeutlicht wird. Als Thiel aus seinem Traum von Minna erwacht, wird die Natur folgendermassen beschrieben: "Es war stockdunkel. […] Der Wald draussen rauschte wie Meeresbrandung, der Wind warf Hagel und Regen gegen die Fenster des Häuschens." (S.22) Im folgenden Text wird dann erwähnt, dass Thiel sich "wie ein Ertrinkender" (S.23) fühle. Hier findet sich also ein direkter Vergleich zwischen der Natur ("Meeresbrandung") und Thiels Gefühle ("wie ein Ertrinkender"). Ein weiterer Vergleich ist folgender Satz: "Auch hinter Thiels Stirn mussten die Bilder der Nacht allmählich verblassen." Hauptmann vergleicht hier direkt Thiels Gedanken mit den Vorgängen der Natur. Damit gibt er einen Hinweis darauf, dass die Natur während der gesamten Geschichte Thiels mentale Vorgänge aufzeigt. Damit wäre der Interpretationsansatz bestätigt.
Unser Fazit lautet nach dieser detaillierten Auseinandersetzung mit der Rolle von Natur und Technik in dem Werk folgendermassen: Wenn auch vielleicht nicht beim ersten Lesen deutlich, machen Natur und Technik einen grossen Anteil an der Wirkung des Textes aus. Denn die düstere Beschreibung von der Eisenbahn und ihrer Umgebung bereiten den Leser gewissermassen auf das Ende des Buches vor. Ausserdem vermittelt Hauptmann über sein symbolisches Schreiben seine persönlichen Gedanken über die Wirklichkeit und den technischen Fortschritt seiner Zeit. Es ist wahrlich bewundernswert, wie viele Symbole und weiterführende Gedanken sich hinter einer solch kurzen Geschichte verbergen!
Tödliches Chaos
Thiel ist ein Mensch, der alles akribisch ordnet. So spaltet er auch mit Absichten seine Gedanken für Minna von seinen Gedanken im "normalen" Leben ab, und denkt nur im Schutz des Bahnhäuschens an sie. Doch diese Spaltung muss irgendwann scheitern, und Thiels Psyche verfällt in Chaos. Dieses Chaos bereitet die Grundlage für die Endkatastrophe.
Thiel führt ein streng geregeltes Leben. Jeden Sonntag geht er in die Kirche und auf seine Arbeit bereitet er sich immer nach einem strengen Ablauf vor: "Jeder Handgriff war seit Jahren geregelt; in stets gleicher Reihenfolge wanderten die sorgsam auf der kleinen Nussbaumkommode ausgebreiteten Gegenstände: Messer, Notizbuch, Kamm, ein Pferdezahn, die alte, eingekapselte Uhr, in die Taschen seiner Kleider." (S.13) Er denkt mit Absicht nur in der Stille seines Bahnhäuschens an Minna. Somit behält er auch in seinem Kopf eine strikte Ordnung, nach der er die Gedanken für beide Frauen sogar räumlich trennt. Der zweite Teil der Geschichte beschreibt, wie Thiel erstmals aus seiner „Trance“ erwacht: "Und plötzlich zerriss etwas wie ein dichter, schwarzer Vorhang in zwei Stücke" (S.22). Dieses bereitet den Weg für Thiels mentales Chaos, da er seine Träume von Minna und das echte Leben vermischt. Das Erwachen kommt überhaupt erst zustande, da er sich nicht an den Tagesablauf hält und von der gewöhnlichen Ordnung abweicht. (bzw. noch einmal nach Hause geht, weil er sein Brot vergessen hat und deshalb sieht, wie Tobias misshandelt wird).
Dass die Ordnung ab diesem Moment gestört ist, zeigt sich auch, als Lene zu dem Bahnhäuschen kommen will, um den Acker zu bestellen. Thiel kann seine zwei Frauen nun nicht mehr räumlich trennen. Er gerät unter Druck, als ihm das bewusst wird: "Nein, nein, das geht ja nicht" (S.21). Das verdeutlicht, dass Thiel weiss, wie gefährlich es ist, wenn seine mentale Trennung misslingt.
Ein zusätzlicher Hinweis auf die zerstörte Ordnung gibt der Moment, als die Thiels Uhr zerschlägt. Denn diese steht ja (wie oben aufgezeigt) zu Beginn der Geschichte für Thiels geordnetes Leben.
Die Zerstörung von Thiels psychischer Ordnung führt zu seinem mentalen Zerfall. Die Zerstörung der Ordnung wird (da die Aussenwelt ja Spiegel der Innenwelt ist) anhand äusserer Dinge aufgezeigt.