Bahnwärter Thiel ist eine novellistische Studie von Gerhart Hauptmann.
Gerhart Hauptmann wurde am 15. November 1862 im schlesischen Ober Salzbrunn geboren. In seinem Leben musste er mit einigen Misserfolgen klarkommen, welche ihn schliesslich dazu veranlassten mit seiner Frau und seinen Kindern nach Berlin-Charlottenburg zu ziehen, wo er sich seiner wahren Passion, dem Theater widmen konnte. Bereits 1888 erschien Bahnwärter Thiel. 1912 wurde ihm der Nobelpreis der Literatur verliehen. (Klicken Sie hier, um mehr über den Autor zu erfahren.)
Die Handlung spielt gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einem kleinen Dorf namens Schön-Schornstein. Die Hauptperson des Werkes ist ein frommer Bahnwärter namens Thiel, welcher nach dem Tod seines geliebten Sohnes Tobias in eine Psychose verfällt. In seinem Wahnsinnszustand beginnt er einen Doppelmord an seiner Frau und seinem zweiten Kind. (Klicken Sie hier, um mehr über den Handlungsverlauf zu erfahren.)
Zentrale Themen des Werkes sind einerseits die Industrialisierung, deren technische Fortschritte stark kritisiert werden, andererseits die Psyche und Abhängigkeit des Menschen. Hauptmann vertritt in seiner Studie die Annahme, dass der Mensch von seinem Milieu stark beeinflusst wird.
Die Studie Bahnwärter Thiel enthält bemerkenswert viele Parallelen zu Georg Büchners Werken "Lenz" und "Woyzeck". Ausserdem wird der Wahnsinnszustand der Hauptperson auch in anderen Werken, wie Nathanael im "Sandmann" und Agonistas aus "Zum wilden Mann" beschrieben. (Klicken Sie hier, um mehr zur Intertextualität zu erfahren)
Das Werk regt zum Weiterdenken an und bietet einige Interpretationsmöglichkeiten. Zum einen spielen Natur und Technik eine zentrale Rolle. Die Technik untermalt das immerzu präsente Unheil und steht für die tragische Wirklichkeit. Die Naturvorgänge spiegeln Thiels mentale Vorgänge wider. Ein anderer Interpretationsansatz, bezieht sich auf Thiels psychische Spaltung. Da Thiel ein sehr geordneter Mensch ist, muss diese Spaltung irgendwann schiefgehen und Thiels Psyche verfällt in Chaos. Dieses Chaos bereitet die Grundlage für die Endkatastrophe. (Klicken Sie hier, um mehr über die Interpretationsansätze zu erfahren.)
Als typisches Werk des Naturalismus zeigt Bahnwärter Thiel die Missstände der sozialen Unterschicht auf. Möglicherweise richtete sich das Werk an die Oberschicht, sollte dazu beitragen ihnen die Augen zu öffnen und die Wirklichkeit vor Augen zu führen. Es war eine literarische Revolution, dass die Missstände so offen dargelegt und die Gesellschaft kritisiert wurde. Eine Art literarischer Weckruf, um die Lebensbedingungen der Unterschicht zu verbessern. (Klicken Sie hier, um mehr über die zeitgeschichtlichen Hintergründe zu erfahren.)
Bahnwärter Thiel ist definitiv schnell gelesen, da die Studie aus knapp 40 Seiten besteht. Hauptmanns Schreibstil ist einfach zu verstehen. Beim erstmaligen Lesen wird der Leser die Handlung verstanden haben. Interessanter wird es jedoch, wenn man das Werk mehrere Male liest, da man beim ersten Lesen unmöglich den gesamten Überblick erhalten kann. Die Studie beinhaltet viele Zusammenhänge und Symbole, die unmöglich beim erstmaligen Lesen ersichtlich werden. Je tiefsinniger man das Werk behandelt, desto mehr Ansichtsweisen eröffnen sich. Die Aussagen im Werk können auf ganz verschiedene Weisen interpretiert werden, da die zentralen Themen unterschiedlich bewertet werden können.
Um einen vertieften Einblick in das Werk zu erhalten, lohnt es sich auf jeden Fall zusätzlich zur Studie noch das Nachwort von Fritz Martini zu lesen. Zugegebenermassen ist das Nachwort nicht gerade in einfachster Sprache verfasst, doch mit ein wenig Geduld ist es ganz gut verständlich.
Sehr beeindruckend sind die vielen verschiedenen Symbole , welche im Buch zu finden sind. Die Eisenbahn ist das zentrale Symbol der Studie. Sie soll dazu beitragen, die Industrialisierung zu kritisieren. Im gesamten Werk, wird die davon ausgehende Gefahr erläutert. Thiels Sohn Tobias starb, als er von einem Schnellzug erfasst wurde. Sein Tod untermauert die Furcht vor dem technischen Fortschritt.
Für den Leser ist es interessant zu sehen, welche Auswirkungen die damals neue Technik auf die Menschen ausübte. Durch die Industrialisierung wurden viele soziale Probleme verstärkt. Die Skepsis gegenüber neuer Technik ist auch heute noch ein Thema. Der technische Fortschritt breitet sich immer schneller aus und kann so manchen Leuten Furcht einflössen.
Die Studie enthält auch andere Symbole, welche jedoch sehr schwierig zu erkennen sind. (Klicken Sie hier, um mehr über die Symbole zu erfahren, welche für den Teufel stehen.) Eines dieser versteckten Symbole ist der Pudel, der bloss in zwei Textstellen scheinbar beiläufig erwähnt wird. Für den Durchschnittsleser ist es nahezu unmöglich, die Bedeutung dieses Symboles zu erkennen. Dazu muss man das Werk sehr genau durchlesen. Ausserdem muss man mit den Inhalten von Goethes Faust vertraut sein. Da gilt der Pudel als Symbol des Teufels, da Mephisto sich als Pudel verkleidete. Hauptmann hat diese Deutung des Pudels in seiner Studie übernommen. Der Pudel kommt jeweils dann in der Handlung vor, wenn kurz zuvor etwas schreckliches passiert war, oder kurz danach etwas schreckliches passieren wird.
Wer sich für Psychologie interessiert, sollte sich definitiv nicht scheuen den Bahnwärter Thiel zu lesen. Die Studie befasst sich mit dem geistigen Zerfall eines Menschen. Wie der Name Studie schon besagt, wird dabei die Versuchsperson genau unter die Lupe genommen. In diesem Fall ist die Versuchsperson die Hauptperson Thiel. Der fromme Bahnwärter entwickelt sich im Verlaufe der Geschichte zu einem Doppelmörder. Der Weg dahin wird offen dargelegt, indem wir Zugang zu seinen Gedanken haben. Einen Einblick in die Psyche eines gestörten Menschen zu erhalten, kann faszinierend und auch verstörend sein. Hauptmann ist es sehr gut gelungen, diesen Werdegang vom frommen Mann zum Mörder fliessend zu gestalten. In keiner Weise scheint der Leser am Ende des Werkes erstaunt zu sein, über den Ausgang der Handlung. Hauptmann hat seit dem Beginn der Handlung eine klare Richtung eingeschlagen, der er bis zum Schluss folgt. Interessant ist dabei auch, wie Hauptmann es geschickt anstellen kann, dass der Leser Sympathien für die Hauptperson entwickelt. Selbst als dieser seine Frau und sein kleines Kind ermordet, wird der Leser zu einem gewissen Grad mit ihm Mitfühlen.
Bahnwärter Thiel bietet Raum für Interpretationen verschiedenster Art. Einerseits steht der technische Fortschritt im Vordergrund, andererseits kann die Tragödie der Menschlichkeit auch als zentral angesehen werden. Genau diese Vielseitigkeit sorgt für ein unterhaltsames Lesen. Die Studie ist jedem zu empfehlen, der sich nicht gerne mit Oberflächlichkeiten befasst, sondern mit seinen Überlegungen tiefer geht. Zum Schluss kann man nur sagen:
In der Kürze liegt die Würze!