Dialog zwischen einem Psychologen und dem ehemaligen Bahnwärter Thiel:
Wir schreiben den 10. November 1898. Die Irrenabteilung der Charité in Berlin erglänzt im Morgenlicht der Sonne. In ihrem Salon befinden sich zwei Männer.
Psycholog:
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Thiel:
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Guten Tag Thiel. Wie geht es uns heute?
Ja doch, ich kann nicht klagen. Der Kartoffelsalat hier schmeckt tatsächlich nicht so schlecht.
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Super, das freut mich sehr. Also, gibt es vielleicht dieses Mal etwas, dass Sie mir mitteilen möchten?
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Nein, eigentlich nur das gleiche wie sonst auch immer. Wissen Sie, ich bin kein böser Mensch. Wirklich nicht, dass möchte ich klarstellen.
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Das weiss ich doch.
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Ja eben. Aber immer wenn ich jemandem begegne, dann betrachtet er mich mit diesem Blick. Dieser Blick, der ist voller Verachtung und Abscheu, wissen Sie?
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Ja, das ist wahrlich nichts Schönes.
Ja. Und dabei kann ich ja eigentlich auch nichts dafür. Ich meine, was hätte Minna bloss von mir gedacht, wenn ich unseren Tobias nicht gerächt hätte. Ich habe es ihr doch versprochen, auf ihn aufzupassen. Wissen Sie, ich denke, es muss furchtbar schlimm für eine Mutter sein, ihren einzigen Sohn zu verlieren.
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Ja klar, das kann sich niemand vorstellen.
Hmm… Doch, eigentlich ja schon. Denken Sie einmal an mich: Ich habe erst meinen Sohn und kurz darauf auch noch meine Frau und mein Kind verloren. Wissen Sie, eigentlich sollte man mich bemitleiden, statt mich zu verurteilen.
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Da haben Sie wohl recht, Sie tun mir wirklich leid. Aber da wir ja gerade bei diesem Thema sind: Denken Sie denn nicht, dass der Tod von Ihrer Frau und ihrem Sohn hätte verhindert werden können?
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Nein, absolut nicht. Sehen Sie, wenn Lene nicht tot wäre, dann müsst ich ja jetzt jeden Tag in die Augen von Tobias Mörderin schauen. Nein, Nein, das geht ja nicht. Nein, nein, das geht ja gar nicht.
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Korrigieren Sie mich, falls ich mich irre. Aber Ihr Sohn Tobias soll doch bei einem Zugunglück ums Leben gekommen sein.
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„Unglück“ – Das sagen sie alle. Doch niemand von ihnen war da. Im Nachhinein kann man Dinge immer schönreden, und die Sachen verändern, so wie es einem gerade passt. Aber ich sage Ihnen, wie es wirklich war: Das Biest hat ihn vor den Zug gestossen.
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Aber wie wollen Sie das denn wissen? Sie haben es nicht mit eigenen Augen gesehen.
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Ich spüre es. Ganz tief in mir, da spüre ich es. Und auch Minna hat diese Meinung. Ihr kann ich ja trauen, und sie hat es gesehen.
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Wie meinen Sie das?
Minna war ständig mit dabei. Deshalb habe ich im Bahnhäuschen immer mit ihr geredet. Denken Sie ich hätte Selbstgespräche geführt? – Ich bin doch nicht verrückt.
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Nein, das wollte ich auf keinen Fall sagen!
Ja also, da haben wir es. Dann haben Sie ja jetzt verstanden, dass ich keine andere Wahl hatte. Wissen Sie, an irgendeinem Punkt muss man sich entscheiden. Ich habe ganze zwei Jahre lang mit der Kuhmagd zusammengelebt. Da sieht man, wie sehr ich Tobias geliebt habe. Schliesslich habe ich das ja alles nur für ihn gemacht.
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Also waren Sie nur mit Lene zusammen, um für das Wohlergehen von Tobias zu sorgen?
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In erster Linie ja. Aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, da hatte die Lene schon ihre gewissen Vorzüge. Sie müssen verstehen, in meinem Bahnhäuschen war ich immer fürchterlich einsam. Da ist es natürlich etwas Schönes, wenn man nach Hause kommt und da eine Frau auf einen wartet. An so etwas kann man sich sehr schnell gewöhnen…
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Das glaube ich Ihnen aufs Wort.
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Aber tief in meinem Herzen, da hab ich immer nur Minna geliebt, das müssen Sie mir glauben. Also, jetzt stellen Sie sich einmal vor, sie hätten in meiner Lage gesteckt. Die eine Frau, Lene, hat Ihren Sohn umgebracht. Die andere Frau, die Minna, die findet das natürlich schrecklich. Und weil Sie Minna unglaublich lieben und ihr versprochen haben, auf ihren Sohn aufzupassen, dann müssen sie diesen Sohn halt für sie rächen. Die Minna konnte es ja selber nicht tun, deshalb musste ich das für sie erledigen.
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Ich verstehe… Na gut Thiel, dann sehen wir uns am Donnerstag für ein neues Gespräch wieder.
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Ich freu mich schon. Ach, und bitte richten Sie der Küche meine Komplimente für den Kartoffelsalat aus. Der war wirklich ausgezeichnet!
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Kommentar: Das Interview stellt einen Versuch dar, Thiels Psyche zu ergründen. Es soll von unserem Standpunkt aus erklären, weshalb Thiel die Tat begangen hat. Denn wir vermuten, dass Thiel sich Minna gegenüber schuldig gefühlt hat. Somit sah er sich dazu gezwungen, Tobias zu rächen.